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Handwerkszeug gegen Desinformation

  • Journalist schult Klassen in Bad Bodenteich im Umgang mit Falschnachrichten

Die Welt der Nachrichten hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert und beschleunigt. Besonders in digitalen Netzwerken ist Medienkompetenz gefragt, um Falschmeldungen von gesicherten Informationen unterscheiden zu können. Gerade Kinder und Jugendliche haben es oft nicht leicht, sich gefahrlos durchs Internet zu navigieren. Die gemeinnützige Organisation Lie Detectors geht mit Ehrenamtlern aus dem Bereich Journalismus in Schulklassen, um aufzuklären. Nun kehrte ein ehemaliger Bad Bodenteich für einen Workshop an seine alte Schule zurück.

In Klasse 9a der Oberschule Bad Bodenteich wird diskutiert, recherchiert und gerätselt. 18 Mädchen und Jungen überprüfen – gebeugt über ihre digitalen Schul-Tablets – den Wahrheitsgehalt einer Meldung aus einer großen deutschen Wirtschaftszeitung aus dem August 2025. Laut dem Artikel, der Ergebnisse einer amerikanischen Studie zitiert, wandern immer mehr Millionäre aus Deutschland ab. 400 von ihnen seien im Jahr 2024 ins Ausland migriert. Im Artikel wird vor einem drohenden Verlust „wirtschaftlicher Substanz und Standortattraktivität“ gewarnt. Doch wieviele Millionäre gibt es überhaupt hierzulande? Eine Gesamtzahl wird im Zeitungstext nicht genannt. Ist die Zahl 400 überhaupt viel? Das herauszufinden ist die Aufgabe, die Referent Holger Lühmann den Jugendlichen stellt. So soll die Nachricht in einen Gesamtzusammenhang gebracht werden. Fünf Minuten haben die Schülerinnen und Schüler dafür Zeit.

Doppelstunde mit aktuellen Beispielen für Falschinformationen

Dies ist eine der praktischen Übungen der rund 90-minütigen Workshops. Hier wird trainiert, wie sich Halbwahrheiten und Desinformation erkennen und richtigstellen lassen. Ganz beiläufig lernen die Schülerinnen und Schüler verschiedene Recherchetechniken kennen. Das Programm von Lie Detectors ist auf Kinder und Jugendliche zwischen Jahrgangsstufe 5 und 9 ausgerichtet, da insbesondere sie – als oft junge Smartphone-Besitzer – es seien, die ein leichtes Ziel darstellten für Falschnachrichten, sagt Lühmann. Immer wieder gibt es in den digitalen Netzwerken manipulative Beiträge zu sehen, beispielsweise auf Instagram, Tiktok, Telegram und Snapchat – Plattformen, die bei jungen Leuten beliebt sind. 

„Insbesondere die Lobby der Fossil-Industrie hat auf Social Media ihre Desinformation intensiviert, um die Energiewende auszubremsen. Das zeigen zum Beispiel Kampagnen gegen Windräder oder gegen einen angeblichen Wärmepumpenzwang, den es nie gegeben hat“, sagt Lühmann. Fake-News in großer Zahl gehen aber auch auf russische Urheberschaft zurück oder gelangt durch rechtsextreme Online-Portale in digitale Plattformen. Der Verfassungsschutz warnt regelmäßig vor diesen Gefahren im Internet. Zwar hat das EU-Gesetz Digital Service Act im vergangenen Jahr bewirkt, dass Betreiber von Digitalplattformen illegale Inhalte löschen müssen. Doch eine Menge sei von der Meinungsfreiheit gedeckt – auch Dinge, die falsch sein können, heißt es im Workshop. Als Beispiel werden Postings gezeigt, die voller suggestiver Fragen stecken. Das mache die Autorinnen und Autoren rechtlich weniger angreifbar, erklärt der Lie-Detectors-Vertreter.

Medienkompetenz nur vereinzelt im Lehrplan

Um Kinder und Jugendliche besser zu schützen, hat das niedersächsische Kultusministerium zwar erst vor wenigen Wochen verkündet, sein Konzept „Medienkompetenz in Niedersachsen – Ziellinie 2030“ aktualisiert zu haben und fortsetzen zu wollen. Doch ein eigenes Schulfach ist Medienkunde weiterhin nicht. Diese Lücke, die es auch in anderen Bundesländern gibt, versucht Lie Detectors mit ehrenamtlich engagierten Journalisten und Faktenfindern zumindest hier und da zu schließen. 

Doch stehen auch die Engagierten vor immer neuen Herausforderungen. Bilder und Videos, die mit künstlicher Intelligenz generiert wurden, sind immer schwerer von der Wirklichkeit zu unterscheiden. Beispiele im Workshop zeigen, worauf bei der Prüfung auf Echtheit zu achten ist: „Bei KI-Bildern sollte man die Randzonen in den Blick nehmen, hier sind oft noch graphische Rechenfehler zu finden“, sagt der Redakteur. „Aber irgendwann wird es Software geben, die auch diese Schwachstelle beseitigt.“ 

Lie Detectors ist in sechs Ländern engagiert 

Lie Detectors wurde 2017 gegründet und umfasst einen Verbund von rund 570 Journalistinnen und Journalisten, 170 von Ihnen in Deutschland. Auch in Belgien, Luxemburg, Österreich, Polen und der Schweiz ist Lie Detectors aktiv. Finanziert wird die Organisation durch Spenden sowie durch Gelder der Wyss Foundation in den USA – Geld von Unternehmen oder Regierungen akzeptiert Lie Detectors nicht. 

Holger Lühmann stieß vor zwei Jahren dazu – und ist nun erstmals für drei Klassenbesuche an seine alte Schule in Bad Bodenteich zurückgekehrt. Eigentlich arbeitet er als Redakteur bei ARD-Aktuell in Hamburg, wo die Sendungen Tagesschau und Tagesthemen entstehen. Auch aus diesem Grund wird im Theorie-Teil des Workshops über Standards im Journalismus gesprochen. Lie Detectors setzt auf den Erfahrungsschatz aus der Branche, wo sich inzwischen das Berufsbild des Faktencheckers fest etabliert hat. „Sicherlich wird in diesem Feld auch in Zukunft Expertise gebraucht werden – nicht nur im Journalismus, sondern auch bei Ermittlungsbehörden, Sicherheitsagenturen oder in der Wissenschaft“, sagt Holger Lühmann. 

Vielleicht findet sich in den Reihen der 9a ein Faktenchecker von morgen. Einen ersten Einblick hat die Klasse jedenfalls erhalten. Die Recherche-Aufgabe zum Wegzug von 400 deutschen Millionären brachte übrigens schnell ein Ergebnis: Im Jahr 2024 lebten laut der im Wirtschaftsartikel erwähnten Studie 781.900 Millionäre in Deutschland. Somit sind 400 von ihnen nur etwas mehr als 0,05 Prozent aller deutschen Millionäre. Ein nennenswerter Verlust der Wirtschaftskraft Deutschlands, wie der Artikel orakelt, lässt sich aus ihrem Wegzug also wohl kaum ablesen.